Als ich vor 16 Jahren zu bloggen anfing war dies, weil ich mir das Ziel setzte ein interessantes Leben zu leben. Daher auch der Untertitel meines Blogs “Das Leben ist so spannend wie man es gestaltet”. Allerdings ist dies nur die Hälfte meiner Strategie.
Natürlich hat man bei der Gestaltung seines Lebens, insbesondere seiner Freizeit, einen gewissen Spielraum, welcher oft von den zur Verfügung stehenden Ressourcen an Zeit, Geld und Gelegenheiten abhängt. Vor der globalen Finanzkrise hatte ich, was monetäre Optionen betrifft, einen wesentlich grösseren Handlungsspielraum.
Spannende Wahrnehmung
Die zweite Seite der Medaille ist allerdings, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und spannende Begebenheiten bewusst wahrzunehmen. Denn vieles passiert, ohne dass man es selbst in Gang gesetzt hätte. Theaterstücke werden zu bestimmten Zeiten gespielt. Natürlich muss man eine Eintrittskarte dafür kaufen und die Zeit für die Aufführung frei halten. Aber sobald man unter den Zuschauern sitzt, spielt das Stück.
Die beiden Seiten, von denen ich spreche sind: Gestaltung einerseits und Wahrnehmung andererseits.
Unser Hirn ist übermäßig in der der Wahrnehmung begabt. Insbesondere über allerlei digitale Kanäle, aber auch in der wirklichen Welt, prasseln Eindrücke auf uns herein. Damit wir ob der Masse an Informationen nicht verrückt werden, filtert unser Hirn den größten Teil wieder heraus und lässt nur jene Details in unser Bewusstsein steigen, denen wir ein Mindestmaß an Wichtigkeit beimessen.
Teil dieses Filterprozesses ist, was Psychologen als Framing bezeichnen. Das ist im Prinzip wie wir beschliessen etwas zu interpretieren, als gut oder als schlecht, als förderlich oder hinderlich. Als “immer muss mir so was passieren” oder “ich liebe Herausforderungen”. Was passiert hat keinen inhärenten Wert, erst durch unser Framing bekommt es einen emotionalen Inhalt.
Treibend versus Getrieben
Die Kunst der spannenden Lebens-Wahrnehmung besteht aber nicht nur darin, alles als “spannend” zu interpretieren. Oft erfordert es auch, dass man sich ein Stück weit treiben lässt um zu sehen, wo man landet. Wer immer nur gerade Linien von A nach B verfolgt, der nimmt sich die Chancen die sich auf leichten Umwegen ergeben hätten.
Beispiel in der jüngsten Vergangenheit: auf meiner Praterrunde mit dem Rad fahre ich durch den Prater-Vergnügungspark. Der Umkehrpunkt steht fest, das ist das Riesenrad. Ebenso dass ich nach erreichen des Umkehrpunktes wieder nach Hause radeln will. Aber als ich dann mal – meinem Instinkt folgend – eine andere Route durch die Menschenmassen fuhr, machte ich eine spannende und erfreuliche Entdeckung. Ich wusste die ungefähre Richtung, aber den genauen Weg überliess ich dem Zufall.
Und dann war da noch der Witz von dem Lotto-spielenden Mann, der immer wieder in die Kirche kam um für einen Lotto-Gewinn zu beten. Bis dem angebeteten Heiligen eines Tages der Kragen platzte und er donnerte: “füll doch endlich mal einen Lotto-Schein aus, Du gibst mir doch gar keine Chance!”
Man muss lernen glückliche Zufälle zuzulassen, wahrzunehmen und sich über sie freuen zu können. Eine gewisse grobe Planung ist wohl nötig, wenn man nicht annimmt, dass alles vorbestimmt ist. Aber manche Details entstehen von selbst, wenn man dies zulässt.
Übrigens gibt es im Englischen ein eigenes Wort für so glückliche Fügungen: Serendipidy. Dieses Wort wurde 1754 von Horace Walpole geprägt, als er in einem Brief zu einer Geschichte kommentierte. In dieser Story, ursprünglich von Michele Tramezzino 1557 in Venedig publiziert, geht es um drei Prinzen aus dem Lande Serdendip, die ohne danach zu suchen allerlei glückliche Entdeckungen machten.
Neulich bei McDonalds
Ein längeres Beispiel für solche eine interessante Verkettung von Zufällen hat sich gestern zugetragen.
Bei einer Grillparty erfuhr ich, dass das Musical “Der Besuch der alten Dame” einerseits sehr empfehlenswert sei, weil meine Freunde es unlängst angeschaut hatten. Und dass es nur mehr eine Woche lang aufgeführt würde. Ich überprüfte die Information sofort im Internet und bekam ein panisches Gefühl, kurz davor zu sein, etwas zu versäumen.
Die zweite Person die ich frage, ob sich mich begleiten möge, sagte zu und so bestellt ich Karten über die Wien Ticket App. Da ich keinen Drucker zu Hause habe, wählte ich die Option die Karten beim Ticketstandl bei der Oper abzuholen. Am Tag zuvor hatte ich nach einem Date das Bedürfnis verspürt mich zu erleichtern. Das Pissoir in der U-Bahnstation Stephansplatz war zu dieser Zeit verschlossen und meine Begleitung schlug vor auf das WC von McDonalds auszuweichen.
Der McDonalds am Stephansplatz hat keinen Code für die Nutzung des WCs, sondern ein Drehkreuz welches einem 50 Cent abverlangt. Dafür bekommt man einen gleich hohen Gutschein mit unbegrenzter Gültigkeit. Wer nichts konsumiert zahlt so 50 Cent, wer dies schon tut, den kostet das WC nichts. Mich faszinierte dieses geniale System. So hatte der Abend damit geendet, dass ich einen McDonalds-Gutschein in der Tasche hatte, weil ich zu dieser späten Stunde nichts mehr essen wollte.
Zurück zu den Musical Tickets. Ich fuhr in der Mittagspause die Tickets holen und der Gutschein war der Grund weshalb ich nach Abholung der Eintrittskarten dann zum McDonalds am Stephansplatz ging. Es war also eine Folge von Ereignissen, die dazu führte dass ich zu dieser Zeit an diesem Ort war.
Der Teufel und das Mädchen
Nach meiner Mahlzeit spielte ich mich mit meinem Handy, als sich ein korpulenter schwarzhaariger Mann und eine grosse, schlanke attraktive Frau um die 40 an den Tisch neben mir setzten. Dieser war zufällig kurz vorher frei geworden, was auch nicht selbstverständig war, da zur Mittagszeit dieser McDonalds im ersten Bezirk sehr gut besucht ist.
Die beiden hatten keinerlei Speisen oder Getränke mit. Stattdessen sagte der Mann etwas in der Art wie “wir fangen jetzt an”, schnappte die Hände der Frau und presste sie auf seine Brust. Der Ton des Mannes war autoritär, er duldete keinen Widerspruch. Und immer wenn die Frau Unbehagen äußerte er so Dinge wie “Du bist keine Katastrophe von Frau”, dass ihr die Zeit ausgehen würde, dass sie nur mehr 2 Chancen hatte und ähnliches.
Stellenweise fischte er nach Informationen indem er etwas sagte wie “Deine Mutter ist sehr stolz auf Dich”, “da war etwas mit Urlaub”, “er ist ein Mann der eine gefühlvolle Frau braucht” und aus den Reaktionen der Frau holte er sich weitere Details auf denen er dann aufbaute. So bekam ich mit, dass die Frau offenbar schwersten Liebeskummer hatte, an der Grenze zur Lebenskrise. Ein attraktiver Mann hat sie offenbar in den Wind geschossen und läuft jetzt einer anderen nach.
Der “Heiler” zeigte eine bunte Mischung aus Aufriß-Tricks, unreflektierten Esoterik-Fachausdrücken, keinen Widerspruch duldender Autorität, erzwungener physischer Berührung, Suggestionen und extrem buschigen schwarzen Augenbrauen. Damit schaffte er es die Frau in einen trance-ähnlichen Zustand zu versetzen. Mit jeder weiteren Wiederholung seines Programmes brach ihr Widerstand immer mehr zusammen bis sie ihm praktisch willenlos ausgeliefert war.
So liess sie es dann mit sich geschehen, dass er ihr ruppig über die Haare strich und die dann abbusselte. Er befahl ihr, ihm einen ihrer Füsse zu geben. Erst massierte er ihn noch, aber dann steckte er ihn zwischen seine Oberschenkel. Als die Frau dann schwach meinte, dass ihr das unbehaglich wäre fuhr er sie wieder autoritär an: “Lass mich arbeiten. Das ist Aura Soma. Kennst du das nicht. Ich muss deinen Motor starten.”
Zwischendurch untermauerte er noch seine Expertise mit Sätzen wie: “ich bin den Jakobsweg gegangen” und “ich war im Rollstuhl”. Offenbar gibt es einen Punkt, da hinterfragt man solch wahnwitzigen Aussagen nicht, wenn sie mit ausrechend Autorität gesagt werden. Und nach vielen Wiederholungen schaltet das denkende Hirn ab und zieht es vor sich führen zu lassen. Auch genannt: Hypnose.
In einer kurzen Atempause, übergab der “Heiler” seine Visitenkarte. Er habe eine Praxis in Baden bei Wien, wo er immer Freitags von 14 bis 18 Uhr ordinieren würde. Unter der Nummer würde sie seine Chefin erreichen. Aber er gab ihr auch noch seine “private Nummer”. Als er aber dann merkte, dass die Frau immer noch Zweifel hegte, begann er sein Programm von vorne.
Ich tat so, als würde ich in meinem Handy lesen um dem Schauspiel noch weiter beizuwohnen. Gleichzeitig spitzte ich aber die Ohren. Bei der zweiten Runde Fuß-Erotik regte sich kein Widerstand mehr. Lange Zeit später kam der Befehl: “Komm zu mir in die Praxis. Wir brauchen 2-3 Sitzungen und läuft Dein Motor wieder.” Als die Frau, mit letzter Kraft, nachfragte, was er dann dort mit ihr machen würde, kam wieder keine konkrete Antwort, sondern der Refrain.
Unterlassene Hilfeleistung
Zeitweise, als es so aussah als würde der “Heiler” seine Beute bald loslassen, dachte ich mir noch zu warten und die Frau zu interviewen ob sie dem Scharlatan wirklich auf den Leim gegangen war. Aber nach etwa einer Stunde verlor ich die Geduld darauf zu erwarten. Im Gehen, über meine Schulter, betrachte ich die Frau noch einmal genauer. Eine Frau, eigentlich attraktiv, mit einer vor Ernst und Traurigkeit verunstalteten Miene und an den Lippen ihres neuen Gurus haftend.
Ich hatte leider nicht miterlebt, wie der Typ sein Opfer angesprochen hatte. Das musste offenbar in der Gegend rund um den Stephansplatz gewesen sein. Einen geschäftigen Ort wie McDonalds für den Beginn der “Therapie” zu wählen spricht Bände über das strotzende Vertrauen in seine Fertigkeiten. Oder ist es gerade ein dermaßen öffentlicher Ort an dem Frauen sich sicher genug fühlen um sich einem zwielichtigen Individuum zu öffnen?
Wir fragen uns, welches Ziel der Mann hier verfolgt. Da kann doch eigentlich nur Geld sein, aber ich wäre nicht überrascht, wenn die “Behandlung” in seiner “Ordination” auch sexuelle Praktiken beinhalten würden… damit endlich “ihre Chakren aufgehen”.
Hätte ich etwas tun sollen? Dazwischen gehen? Die Frau vor dem “Heiler” retten? Ich glaube nicht, dass dies die Lern-Aufgabe für mich aus dieser Geschichte war. Ich selbst habe in der Vergangenheit immer wieder mit dem Helfer-Syndrom zu kämpfen gehabt. So sehe ich dieses Ereignis als Reflexion meiner eigenen Entwicklung. Ich bekam eindrucksvoll vor Augen geführt, die sehr man das Therapieren von traurigen Frauen auf die Spitze treiben kann. Nein, diese Lern-Erfahrung war ausschliesslich für meine passive Konsumation gedacht.
Zufälle machen das Leben viel spannender. Aber man muss gleichermassen neugierig wie offen sein, damit sie einem zufallen können. Manchmal sind es bewusste Umwege, manchmal Verkettungen von Umständen die einen zum richten Zeitpunkt zum richtigen Ort führen.