Als ich am 24.7.2019 Geburtstag feierte, war das auf den Tag genau der 111. Geburtstag meines Großvaters. Ich habe im Laufe des letzten Jahres einiges über sein trauriges Schicksal erfahren und nahm diesen Jahrestag zum Anlass, einen Überblick niederzuschreiben. Seine Geschichte ist ein Bespiel dafür wie viel Pech ein intelligenter, sportlicher, gesanglich begabter Akademiker hatte, dass sein Leben so eine tragische Wende nahm.
Walter Pasching erblickte am 24. Juli 1908 in Zürich das Licht der Welt, war aber dennoch Österreicher. Sein Vater Leopold Pasching (geb. 1878 in Langenlois) hatte nach einem Studium am Eidgenössischen Polytechnikum dort eine Stelle an der Oerlikoner Maschinenfabrik angenommen und hatte seine Ehefrau Theresia Feucht (geb. 1882, getraut 1907 in Zwettl) mit nach Zürich genommen.
Anfang 1912 übersiedelte die Familie nach Nesselsdorf (heute Kopřivnice in Tschechien), wo Vater Leopold die Karriere-Leiter bei der Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft (später Tatra) erklomm, wo er dann von 1917 bis 1923 Generaldirektor war.
Leopold interessierte sich anfangs gar nicht für sein Kind, die ersten 10 Jahre seines Lebens war Mutter Theresia exklusiv für ihn zuständig. 1918 wurde der junge Walter in das Gymnasium/Internat in Kremsmünster gesteckt, welches 450 km von Nesselsdorf entfernt ist. Die Familie zog es dann 1922 wieder nach Österreich. Darauf folgend studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Wien von September 1926 bis Juni 1931 und schloss mit dem Grad eines Doktors ab. Gleich darauf machte Walter ein Auslandsjahr bei Harvard Universität in Cambridge in den USA, wo er eine Arbeit mit dem Titel “General Principles of Law, recognized by Civilised Nations” schrieb.
Für einige Jahre arbeitete Walter dann als Rechtsanwalt in Wien und bewohnte die ehemalige Dienstwohnung seines Vaters in der Seilerstätte 5 im ersten Bezirk Wiens. Im März 1938 geschah der Anschluss Österreichs an das deutsche Reich, im November des selben Jahres heiratete Walter die gebürtige Schweizerin Henriette Erika Wälti und die beiden zogen nach Berlin, wo Walter als Rechtsanwalt bei der Bank für Industrieobligationen angestellt war.
Als nunmehr “deutscher Reichsangehöriger” wurde Walter 1941 überraschend zum Dienst in der deutschen Wehrmacht einberufen. Da er bisher nicht gedient hatte, wurde er zunächst im Oktober 1941 zur Grundausbildung in Wongrowitz (Polen) geschickt und danach dann in die Gegend von Garmisch-Partenkirchen (Deutschland) versetzt. Dort bekam Ehefrau Henriette zu Silvester 1941/1942 die Möglichkeit ihren Mann zu besuchen und bei dieser Gelegenheit wurde ein Kind gezeugt. Anschliessend zog Walter ins Feld.
Henriette bemerkte ihre Schwangerschaft kurze Zeit später, und kam zur Einsicht dass, auf sich allein gestellt, Berlin kein guter Ort wäre, ihr Kind zur Welt zu bringen. Ihr Vater Ernst Wälti, Direktor bei der Allgemeinen Treuhand AG (heute Ernst & Young Schweiz), beantragte für die nunmehr deutsche Reichsangehörige eine Einreisebewilligung mit der Begründung, dass Henriette “dringend erholungsbedürftig” sei. So konnte Henriette zurück zu ihren Eltern nach Zürich ziehen wo sie dann am 4.10.1942 ein Mädchen zur Welt brachte und Stefanie Elisabeth nannte. Henriette durfte trotz Ablauf ihrer Bewilligung in Zürich bleiben.
Die Schweiz machte es Walter sehr schwer, seine Familie während seiner Fronturlaube zu besuchen. 2 Monate dauerte der Prozess inklusive mehrerer Ablehnungen, bis Walter schliesslich für 2 Wochen zu Besuch kommen konnte. So sah er seine Tochter zum ersten Mal ab Neujahr 1943, mit 3 Monaten. Das Paar schafft es noch ein zweites Mal, dass Walter im Oktober 1943 zu Besuch kommen könnte. Wie man auf dem Foto sieht, lief die ein-jährige “Stefferl” dann schon im Garten der Villa in Kilchberg (Vorstadt nördlich von Zürich) herum, welche Familie Wälti dann bewohnte. Spätere Visumsversuche sollten erfolglos bleiben.
Im März des gleichen Jahres starb seine geliebte Mutter Theresia nach längerer psychischer Erkrankung. Vater Leopold heiratete nur ein halbes Jahr später seine um 25 Jahre jüngere Geliebte Margarete (geb. Gortischan) im Wiener Stephansdom. “Gretl” war nur 5 Jahr älter als Walter.
Walter wurde am Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, dem 7. Mai 1945 in der Nähe von Prag gefangen genommen und kam in russische Gefangenschaft. Die Russen schickten die Kranken heim, arbeitsfähige Gefangene kamen in Arbeitslager. So kam Walter nach Russland, wo er im Laufe der Jahre in mehreren Arbeitslagern auftauchte. 1947 begann der Operationsbevollmächtigte des MWD Oberstleutnant Pokladnjew im Lager Tscheljabinsk mit Verhören bei denen er äußerst skrupellos und schlau zu Werke ging. Bei so einem Verhör gestand Walter ein Haus gesprengt zu haben (er hat nur die Sprengladung gelegt, gesprengt hätte ein anderer). Ausserdem gab er zu im Winter 1942 einem Jagdkommando angehört zu haben, das bei einer Strafaktion Zivilisten erschossen und eingeäschert hatte (er war nur Wache). Diese Aussagen führten dazu, dass er als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, eine Rückkehr war sehr unwahrscheinlich geworden.
Abgesehen von anfänglichen Hungerproblemen ging es Walter in der russischen Gefangenschaft ganz gut. Heimkehrer berichten, dass die Russen alles taten dass Kranke wieder gesund zu bekommen. Es gab sehr wenige Sterbefälle und es wäre den Russen sogar peinlich gewesen, wenn doch einer starb. Walter bekam viele “Care Packages” aus der Heimat mit Kleidung, Nahrung und Toilettenartikeln. Er war als guter Turner bekannt und trat immer wieder als Sänger bei Kulturabenden auf.
Henriette hatte durch die Heirat die Schweizer Staatsbürgerschaft verloren und durfte dadurch nicht mehr in der Schweiz arbeiten. Über Vermittlung von einem Freund bekam sie Mitte 1950 die Möglichkeit als Werbezeichnerin in Sao Paulo zu arbeiten. So übersiedelte sie nach Brasilien in eine Wohnung die ein wohlhabender Jude an europäische Künstler vermietete. Stefanie blieb noch ein Jahr länger bei ihren Großeltern in Zürich, während sie die ersten beiden Grundschulstufen absolvierte. Im Sommer 1941 holte Henriette ihre Tochter zu sich nach Brasilien. Ihr dortiger Geschäftspartner Herbert Penzlin (geb. 1911 in Hamburg) wurde zu ihrem Lebensgefährten und Ersatz-Vater für Stefanie.
Brasilien sollte auch ein wichtige Rolle zu Österreichs Staatsvertrag spielen, der am 15. Mai 1955 unterzeichnet wurde und Österreich als demokratischen und unabhängigen Staat wiederherstellte. Im folgenden Monat kehrte Walter überraschend heim, er kam am 4. Juni 1955 auf dem 68 Transport in Wr. Neustadt an. Während seiner Gefangenschaft hatte man ihn im Dunkeln gelassen, dass seine Frau und sein Kind mittlerweile in Brasilien weilten, wohl um seine Hoffnung nicht zu zerstören.
Walter forderte im Zuge eines emotionalen Briefwechsels erfolgreich ein, dass seine nunmehr 13-jährige Tochter zu ihm nach Wien kam. Er hoffte sie mit Opernbesuchen, Bergtouren und vorgetragenen Gedichten für sich einzunehmen, was aber nicht fruchtete. Während Stefanie ein Gymnasium in Wien besuchte, wohnte sie bei Walters Cousine Margaretha Malek, die als Mutter von 2 wohlerzogenen Töchtern noch am ehesten dafür sorgen konnte, dass sich die Teenagerin halbwegs wohl fühlte. Aber Stefanie wurde mit dem unbekannten Mann, der ihr Vater sein sollte, sprichwörtlich nicht “warm”. Tatsächlich fror sie ständig, vermisste das warme Klima, ihre Freunde in Sao Paulo und den viel angenehmeren Lebensstil.
Schliesslich musste Walter einsehen, dass er die Kindheit und Erziehung seiner Tochter unwiederbringlich versäumt hatte. Die Hoffnung darauf, in der Vaterrolle Erfüllung zu finden, löste sich in Luft auf. Er willigte daher in die Scheidung von Henriette ein, die am 13. Juli 1956 in Wien passierte. Stefanie durfte nach Sao Paulo zurückkehren um das Gymnasium dort zu vollenden. Da in Brasilien das Schuljahr im Januar anfängt machte sie erfolgreich eine Übertrittsprüfung damit sie das halbe Jahr nicht wiederholen musste. Es wurde vereinbart, dass Henriette ihre Tochter nach ihrem Abschluss wieder nach Wien schickt, um dort die Ausbildung zur Gebrauchsgrafikerin zu machen.
Walter arbeitete nach seiner Rückkehr wieder als Rechtsanwalt und übernahm die Führung der Akalit Kunsthorn-Werke in Brunn/Gebirge von seinem Vater Leopold. Aber es begannen sich psychische Probleme zu manifestieren. Einmal hatte Walter bei einer anstrengenden Bergtour einen Nervenzusammenbruch. Er kam wegen seiner Depressionen in psychiatrische Behandlung, im Rahmen derer er mit Elektroschocks behandelt wurde.
In Russland hatte er sich an seinen katholischen Glauben geklammert, weswegen die Ehe zu Henriette, trotz weltlicher Scheidung, für ihn als unauflösbar galt. So ließ er keine Frau mehr in sein Leben, obwohl sich dazu sicherlich Gelegenheiten geboten hätten.
1961 zog Stefanie dann endlich zu ihrem Vater in seine Wohnung in der Gumpendorferstrasse 89 in Wien. Über vier Jahre lang besuchte sie die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien 7 (Abteilung für Gebrauchsgrafik), gefolgt von einem Jahr Meisterklasse. Danach arbeitete sie im Atelier von Otto Bussek am Lugeck. Sie erlebte die Depressionen ihres Vaters so, dass sie ihn immer öfter lange brütend in seinem Lehnstuhl vorfand.
Als Stefanie am Montag, den 28. November 1966 nach der Arbeit um etwa 18 Uhr abends nach Hause kam, fand sie ihren Vater tot im Innenhof des Wohnhauses vor: er hatte sich aus dem 5. Stock zu Tode gestürzt. Dieses schreckliche Erlebnis kam zwar nicht gänzlich überraschend, sollte meine Mutter aber Zeit ihres Lebens verfolgen.